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Der Bürger, das Kleinkind: wie die deutsche Regierung das Volk mit teuren Kampagnen zu erziehen versucht

Wer dachte, das politische «Nudging» der Deutschen sei mit dem Ende der Ära Merkel vorbei, hat sich getäuscht. Die Materialschlacht geht weiter.

Von Susanne Gaschke in Neue Züricher Zeitung

Im Jahr 2015 verspürte die deutsche Regierung plötzlich ein dringendes Interesse, mit den Bürgern zu sprechen. Es war die Zeit der Flüchtlingskrise und der Pegida-Demonstrationen im Osten. Bundeskanzlerin Angela Merkel besuchte damals landauf, landab «Bürgerdialoge». Bei denen wurde eines allerdings durch strikte Regie verhindert: irgendein echter Austausch zwischen der Regierungschefin und den Regierten. Diese durften lediglich Karteikärtchen mit ihren Vorstellungen über das «gute Leben in Deutschland» ausfüllen.

Das Gespräch sei «die Seele der Demokratie», so hat es der 2005 verstorbene frühere SPD-Generalsekretär Peter Glotz einmal gesagt. Doch seit Merkels Regierungszeit wird dieses Gespräch sehr einseitig geführt, mit immer neuen Belehrungen fürs Publikum. Eine Hoffnung für die Zeit nach den grossen Koalitionen und nach dem Ende der Ära Merkel hatte darin bestanden, dass das regierungsamtliche «Nudging», die sanfte Bevormundung der Bevölkerung, aufhören könnte. Der damalige SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hatte im Wahlkampf eine Kultur des «Respekts» gefordert. Das klang ganz so, als wäre er bereit, die Bürger im Falle eines Wahlsiegs wie Erwachsene zu behandeln.

Doch unter dem Kanzler Scholz und seiner Ampelkoalition mit den Grünen und der FDP hat sich das Propaganda-Element in der Kommunikation der Regierung nicht verflüchtigt, sondern eher verstärkt. Die Kampagne «Demokratie leben» etwa, die vor allem Projekte zur Förderung einer politisch korrekten Weltsicht mit Steuergeldern ausstattet, soll im kommenden Jahr fast 200 Millionen Euro erhalten.

«Weil meine Mama mich braucht»

Auch das Wirtschafts- und das Gesundheitsministerium belehren die Deutschen mit teuren Werbekampagnen; es geht ums Impfen gegen Corona und ums Energiesparen. Allein an den Slogans lassen sich die Kampagnen kaum auseinanderhalten. «Damit ich alles gebacken bekomme», heisst es auf den grossflächigen Plakaten, oder: «Der Winter kommt», «Lasst uns alle zusammenhalten», «Weil meine Mama mich braucht und ich sie».

Die Gesundheitskampagne wird federführend verantwortet von der Hamburger Agentur Raphael Brinkert und kostet laut Auskunft des Ministeriums rund 40 Millionen Euro. Brinkert hatte auch den Bundestagswahlkampf für den heutigen Kanzler Scholz entworfen. Die Energiesparkampagne hingegen wird von der Grünen-nahen Agentur Zum Goldenen Hirschen umgesetzt. Sie kostet dieses Jahr ebenfalls rund 40 Millionen Euro. Eine frühere Kampagne war noch mit 8 Millionen Euro ausgekommen.

Teurer als die Wahlkämpfe von SPD und CDU zusammen

Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens: Rechtfertigt der Informationsgehalt der Kampagnen – Impfen, Energiesparen – die steuerfinanzierten Kosten von zusammen mehr als 80 Millionen Euro? Zum Vergleich: Die Bundesverbände von SPD und CDU hatten für die Bundestagswahlkämpfe ihrer Parteien 2021 zusammen weniger als die Hälfte ausgegeben, 35 Millionen Euro. Und zweitens: In welchem grösseren Kontext steht eigentlich diese Werbung, welches Bild der Regierung von den Bürgern steckt dahinter?

Auf die Frage nach dem Aufwand antworten die Verantwortlichen naheliegenderweise: Ja, die Kosten lohnten sich. «Aufgrund der Krise und der dringenden Notwendigkeit, Energie einzusparen, um gut durch den Winter zu kommen, wurde 2022 das Werbebudget erhöht», sagt eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums. Zur Fortführung der Kampagne sollten 2023 weitere Gelder bereitgestellt werden, teilt sie mit.

Ein Nachweis, welche konkrete Sparwirkung Slogans wie «Energie ist knapp und teuer» oder «Freiheit bewahren und unser Klima schützen» beim Bürger entfalteten, sei nicht möglich, heisst es noch. Aber der Energieverbrauch im Land sinke ja. Das kann freilich an vielen Faktoren liegen, zum Beispiel am relativ warmen Monat Oktober oder daran, dass die Verbraucher sich ohnehin vor den hohen Energiepreisen fürchten und ganz von selbst sparen.

Der grüne Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck machte jedenfalls beim Start seiner «Der Winter kommt»-Kampagne deutlich, dass es ihm nicht nur um die Information der Bürger geht: «Wir tragen den Wettbewerbsgedanken ins Land, wer den Energiewechsel jetzt am schnellsten, nachhaltigsten und damit am vorbildlichsten voranbringt.»

«Papa macht gute Werbung»

Apropos vorbildlich: Habeck ist der Minister, der, so meldet es die «Bild»-Zeitung, angeblich gerade einen eigenen Fotografen sucht. Für einen Rahmenvertrag von 400 000 Euro soll der Politiker perfekt in Szene gesetzt werden.

Von Vorbildern spricht auch der Werber Raphael Brinkert, der die «Ich schütze mich»-Impfkampagne fürs SPD-geführte Gesundheitsministerium entwickelt hat: «Unsere Vorbilder appellieren an das Schutzbedürfnis der Bevölkerung, ohne belehrend zu sein.»

Brinkert stand für ein Gespräch mit der NZZ aus Termingründen nicht zur Verfügung, aber ein Blick auf die Website seiner Agentur offenbart seine Grundsätze: keine Werbung für die Tabak- oder Rüstungsindustrie, dafür Einsatz für den Klimaschutz und die «ökosoziale Transformation». Er wolle seinen Kindern in die Augen sehen und sagen können: «Papa macht gute Werbung», erfährt man. In einem auf der Agentur-Website abrufbaren Podcast bringt Brinkert sein Vorgehen so auf den Punkt: «Keep it simple and stupid.» Drück dich einfach und dumm aus.

Informationsgehalt? «Gegen null»

Nicht alle sind so überzeugt vom Preis-Leistungs-Verhältnis der beiden Grosskampagnen wie die behördlichen Auftraggeber und ihre geldverdienenden Auftragnehmer. Reiner Holznagel etwa, der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Steuerzahler, findet scharfe Worte der Kritik: «Das sind rein politische Kampagnen, deren Informationsgehalt gegen null geht.» Das Geld wäre seiner Ansicht nach besser direkt im Klimaschutz oder in der Ertüchtigung des Gesundheitswesens angelegt. Steuergelder seien nicht für die Selbstdarstellung von Ministern vorgesehen.

Den Wirtschaftswissenschafter Jan Schnellenbach von der Brandenburgischen Technischen Universität beschäftigt indes vor allem die Frage nach dem Kontext der ministeriellen Kampagnen. Der Staat müsse die Bürger als rationale Akteure wahrnehmen, sagt er; das sei eine unhintergehbare Voraussetzung der Demokratie. Die Frage ist: Tut der deutsche Staat das?

Spätestens seitdem Merkel 2014 im Kanzleramt das Referat 612 mit dem programmatischen Namen «Wirksam regieren» eingerichtet hatte, nahmen die pädagogischen Interventionen der Exekutive zu, egal, ob es um Flüchtlinge, ums Coronavirus oder um die «Energiewende» geht. Ein früherer Mitarbeiter des Kanzleramts, der sich nicht namentlich zitieren lassen möchte, sagt: «Dieses Referat war ausschliesslich zuständig für ein Trommelfeuer an moralisch aufgeladener Kommunikation.»

Die Christlichdemokratin Merkel war mit ihrem Wunsch nach sanfter Lenkung der Bevölkerung nicht allein. Der ehemalige amerikanische Präsident Barack Obama beschäftigte während seiner Zeit im Weissen Haus den Harvard-Professor Cass Sunstein als «Nudging»-Experten für die datengestützte Manipulation der Bevölkerung. Und die Psychologen des «Behavioral Insights Team» des früheren britischen Premierministers Tony Blair waren in dessen Amtszeit in Berlin zu Gast, um die Merkel-Regierung zu beraten.

Der Sound der DDR-Jungpioniere

Während das klassische «Nudging» Entscheidungen der Bürger eigentlich unmerklich beeinflussen soll – beim Energiesparen, bei der Organspende oder beim pünktlichen Steuerzahlen –, waren und sind die Bestrebungen der deutschen Regierung fast schmerzhaft offensichtlich. «Meine Disziplin / ist unsre beste Medizin» lautete ein Lockdown-Werbeplakat im Jahr 2020. Die Diktion erinnert an die Gebote der Jungpioniere in der DDR: «Wir Jungpioniere lernen fleissig, sind ordentlich und diszipliniert.»

Das Kanzleramtsreferat 612 existiert heute noch, und es ist nach wie vor für «Verhaltenswissenschaften» zuständig. Laut dem Bundespresseamt hat es die Aufgabe, «Vorhaben und staatliche Angebote besser an den Bedürfnissen und am Erleben der Bürgerinnen und Bürger auszurichten, diese (Vorhaben und Angebote) einfacher und dadurch besser zu machen». Oder, frei nach dem Werber Raphael Brinkert: möglichst einfach und dumm.

«Was wir in den vergangenen Jahren zunehmend beobachten, sind manipulative Versuche der Präferenzbeeinflussung durch die Politik», sagt der Ökonom Schnellenbach: «Statt gefährliche Verhaltensweisen gesetzlich zu regulieren – was natürlich politisch kontrovers sein könnte –, versucht die Exekutive, bestimmte Verhaltensweisen zu ächten und andere Verhaltensweisen als vorbildlich darzustellen. Das führt im Ergebnis zu einer Moralisierung der Politik, die immer stärker wird.» Die Verantwortung für Missstände und Krisen werde dem (Fehl-)Verhalten der Bürger zugerechnet, während die Politik es versäume, bessere Rahmenbedingungen für alle zu schaffen.

Koteletts und Schuldgefühle

Als der heutige Wirtschaftsminister Habeck noch Autor und nurmehr aufstrebender Parteipolitiker war, sah er die Dinge noch ähnlich wie Schnellenbach. An Lesungen und politischen Versammlungen vertrat der Grünen-Politiker die Meinung, dass es für den Einzelnen möglich sein müsse, ohne grosse Schuldgefühle ein Nacken-Kotelett zu grillieren – und dass es die Aufgabe der Politik sei, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Viehzucht dem Tierwohl gerecht werde.

Auch der Mainzer Historiker Andreas Rödder, Vorstand des liberal-bürgerlichen Think-Tanks «Republik 21», kritisiert, dass sich die bevormundende Art des Sprechens seit Merkel-Zeiten ausdehne. Als Geschichtswissenschafter denke er bei Wortschöpfungen wie dem «Gute-Kita-Gesetz» oder den Impf- und Energiesparkampagnen an den klassischen Obrigkeitsstaat: «Vorschriften und Fürsorge werden verbunden.»

Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist die Agitation durch Kanzleramt und Ministerien ebenfalls bedenklich: Einer der Standardkommentare zum deutschen Grundgesetz (Dürig/Herzog/Scholz) definiert die «negative Informationsfreiheit» als Schutz vor Indoktrination durch staatliche Informationsquellen. Zur Begründung führt der Verfassungsrechtler Christoph Grabenwarter die «historische Perspektive» an: Immerhin mussten die Deutschen in zwei Diktaturen reichlich Erfahrungen mit Propaganda machen.

Der erhobene Zeigefinger

Selbst manchen Grünen wird inzwischen mulmig bei der Flut von Spar-, Dusch- und sonstigen Verhaltenstipps, mit denen die Exekutive ihre Bürger belehrt. Klaus Müller, seit vergangenem Frühjahr Präsident der Bundesnetzagentur, war einmal Chef des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen. Aus dieser Zeit weiss er noch, dass übertriebene Moralisierung häufig kontraproduktiv ist: «Wenn man zu sehr individualisiert, dann hören Menschen nicht die Botschaft, sondern sehen nur den erhobenen Zeigefinger», sagte er kürzlich dem «Spiegel».

Da hat er recht. Für Verhaltenspsychologie ist die Regierung nicht zuständig. Sie kann informieren. Sie kann Anlässe für Gespräche schaffen. Vor allem könnte sie zuhören. Wenn sie das täte, wüsste sie, wie sehr ihr pädagogischer Ton vielen Bürgern auf die Nerven geht – und wie wenig er fruchtet: Drei Viertel der Deutschen sind ausweislich verschiedener Umfragen mit der Ampelregierung unzufrieden.

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