Die Stuttgarter Autorin Anna Haag begann 1940 ein Tagebuch und beschrieb darin nicht nur den Alltag in der Nazizeit, sondern vor allem die Einstellungen ihrer Mitmenschen zu Krieg und Führerkult. Erschreckend wenige Leute hätten Probleme mit den Freiheitsbeschränkungen, beklagt sie darin. Selbst die widersprüchlichsten Propagandabehauptungen wurden von vielen Menschen, auch von den Gebildeten, geglaubt. Sogar als Haag und ihre Nachbarn zum Kriegsende ausgebombt in einem Stollen saßen, gab es noch siegessichere Blockwarte. „Manchmal – nein oft – verzweifele ich völlig am deutschen Volk.“
Im Mai 1940 beginnt Anna Haag, 52 Jahre alt und Journalistin, ein schonungslos offenes und regimekritisches Tagebuch zu führen, das sie über Jahre im Kohlenkeller versteckt. Sie hört ihren Mitmenschen genau zu – in der Straßenbahn, bei Behördengängen oder in Geschäften. In pointierten Skizzen hält sie fest, was ganz gewöhnliche Deutsche schon während des Zweiten Weltkriegs über die Judenvernichtung und die Verbrechen des NS-Regimes wussten. Sie erzählt mit Ironie und Klarheit von Hamsterfahrten im Stuttgarter Umland, von verbotenen Treffen zum BBC-Hören oder von Wortgefechten mit ihrem Lieblingsgegner, dem regimetreuen Apotheker.
Das geheime Tagebuch der Pazifistin und späteren Politikerin erscheint hier zum ersten Mal komplett. In Haags Aufzeichnungen werden der normale Alltag während des Zweiten Weltkriegs und das Spannungsverhältnis zwischen faschistischer Öffentlichkeit und privaten Befindlichkeiten der Menschen greifbar.