Britische «Lockdown-Files» zeugen vom Corona-Machtrausch von Politikern und Beamten

„100 000 geleakte Whatsapp-Nachrichten des ehemaligen Gesundheitsministers werfen ein schiefes Licht auf den britischen Umgang mit der Corona-Krise: Boris Johnsons Regierung sperrte Reisende lustvoll in Quarantäne-Hotels und verhängte aus politischen Motiven eine Maskenpflicht an Schulen.“

„Einmal forderte Hancock, die Ordnungshüter müssten mit ‚harter Hand‘ durchgreifen, um Lockdown-Sünder zu bestrafen. Boris Johnson beantwortete die Nachricht, wonach ein von einer Reise nach Dubai zurückgekehrtes englisches Ehepaar mit 20 000 Pfund gebüsst worden sei, mit dem Kommentar: ‚wunderbar‘. 

Ein Berater Hancocks stellte im Chat gar die Frage in den Raum, ob man nicht den Brexit-Vorkämpfer und Lockdown-Kritiker Nigel Farage wegen eines mutmasslich rechtswidrigen Pub-Besuchs ‚einbuchten‘ könne. 

Ein hoher Beamter aus Johnsons Umfeld freute sich derweil maliziös über die Einführung obligatorischer Quarantäne-Hotels an Flughäfen, in die Reisende aus gewissen Ländern gesperrt wurden. ‚Wir geben Grossfamilien die Hotelsuiten und sperren Pop-Stars in die kleinen Zimmer‘, schrieb Hancock. ‚Ich will die Gesichter der Erstklasspassagiere sehen, die in einem Premier Inn Hotel in eine Schuhschachtel einquartiert werden‘, entgegnete Johnsons Sekretär Simon Case. ‚Wie viele haben wir denn heute schon eingesperrt?‘“

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NZZ: Britische «Lockdown-Files» zeugen vom Machtrausch von Politikern und Beamten während der Corona-Krise

100 000 geleakte Whatsapp-Nachrichten des ehemaligen Gesundheitsministers werfen ein schiefes Licht auf den britischen Umgang mit der Corona-Krise: Boris Johnsons Regierung sperrte Reisende lustvoll in Quarantäne-Hotels und verhängte aus politischen Motiven eine Maskenpflicht an Schulen.

Im britischen Alltag ist die Covid-Pandemie nur noch eine ferne Erinnerung an hohe Ansteckungs- und Todeszahlen, rigide Lockdowns und kafkaeske Distanzregeln. Nun aber haben über 100 000 private Whatsapp-Nachrichten des ehemaligen Gesundheitsministers Matt Hancock Grossbritannien auf einmal wieder in helle Corona-Aufregung versetzt. Pikanterweise brach eine Journalistin, die mit Hancock ein Buch über die Corona-Krise verfasst hatte, eine Geheimhaltungsvereinbarung und stellte die Nachrichten aus regierungsinternen Whatsapp-Gruppen mit insgesamt 2,3 Millionen Wörtern dem «Daily Telegraph» zur Verfügung.

Unbestritten ist, dass sich die damaligen Politiker und Beamten unvorbereitet in einem von immensen Schwierigkeiten geprägten Umfeld zu bewähren hatten. Die Whatsapp-Leaks, die der «Telegraph» dem Publikum in mehr oder weniger verdaulichen Portionen serviert, haben auch noch keinen grossen Skandal ans Tageslicht befördert. Sie zeigen aber, dass Minister und Beamte etliche Massnahmen auf einer dünnen wissenschaftlichen Basis oder aus politischen Motiven trafen. Mitunter schimmert gar eine Lust durch, die Bevölkerung mit drakonischen Regeln zu drangsalieren.

Politisch motivierte Maskenpflicht

Grossbritannien verhängte 2020 vergleichsweise spät den ersten Lockdown und lockerte die Massnahmen gegen Ende der Pandemie früher als andere europäische Länder. Dazwischen aber setzte die Regierung von Premierminister Boris Johnson immer wieder rigorose Lockdowns und Kontaktbeschränkungen durch – mit einer mitunter willkürlich anmutenden Nonchalance.

Eine Ministerin gibt in den Chats offen zu, es gebe keine «robuste Logik», um die maximalen sozialen Kontakte auf sechs Personen inklusive Kinder zu begrenzen – was die Minister freilich nicht daran hinderte, genau dies zu beschliessen. Ähnlich verfuhren sie mit der Maskenpflicht an Schulen: In einem langen Chat-Austausch kamen die wissenschaftlichen Berater zu dem Schluss, dass es weder für noch gegen das Tragen des Gesichtsschutzes in Korridoren und auf Pausenplätzen klare Argumente gebe. Am Ende entschieden sich Johnson und seine Regierung aus rein politischen Gründen für die Maskenpflicht – um eine Diskrepanz zum strengen Regime der schottischen Regionalpräsidentin Nicola Sturgeon zu verhindern.

Nigel Farage «einbuchten»?

Begleitet war das englische Corona-Regime von einem strengen Kontrollapparat: Die Polizei verhängte mitunter auch in Bagatellfällen hohe Bussen, in Nordwestengland verfärbten die Ordnungshüter einmal gar eine Lagune mit schwarzer Tinte, um Besucher abzuschrecken. Die Textnachrichten zeigen nun, dass Beamte und Regierungsmitglieder das strenge Kontrollregime eigens beförderten.

Einmal forderte Hancock, die Ordnungshüter müssten mit «harter Hand» durchgreifen, um Lockdown-Sünder zu bestrafen. Boris Johnson beantwortete die Nachricht, wonach ein von einer Reise nach Dubai zurückgekehrtes englisches Ehepaar mit 20 000 Pfund gebüsst worden sei, mit dem Kommentar: «wunderbar». Ein Berater Hancocks stellte im Chat gar die Frage in den Raum, ob man nicht den Brexit-Vorkämpfer und Lockdown-Kritiker Nigel Farage wegen eines mutmasslich rechtswidrigen Pub-Besuchs «einbuchten» könne.

Ein hoher Beamter aus Johnsons Umfeld freute sich derweil maliziös über die Einführung obligatorischer Quarantäne-Hotels an Flughäfen, in die Reisende aus gewissen Ländern gesperrt wurden. «Wir geben Grossfamilien die Hotelsuiten und sperren Pop-Stars in die kleinen Zimmer», schrieb Hancock. «Ich will die Gesichter der Erstklasspassagiere sehen, die in einem Premier Inn Hotel in eine Schuhschachtel einquartiert werden», entgegnete Johnsons Sekretär Simon Case. «Wie viele haben wir denn heute schon eingesperrt?»

Auch «Party-Gate» ist zurück

Das harte Regime, das die Regierung der Bevölkerung auferlegte, kontrastierte mit dem Verhalten der Entscheidungsträger. Hancock musste zurücktreten, weil eine Kamera aufgezeichnet hatte, wie er eine Geliebte im Widerspruch zu den Corona-Regeln innig küsste. Seither machte Hancock vor allem noch mit der Teilnahme an einer Reality-TV-Show im australischen Dschungel von sich reden.

Boris Johnson stolperte derweil über die Lockdown-Partys an der Downing Street Nummer 10, die nun ebenfalls wieder in die Schlagzeilen geraten. Zum einen kam eine parlamentarische Untersuchungskommission am Freitag in einem Zwischenbericht zu dem Schluss, dass Johnson die Legislative in die Irre geführt haben könnte. Zum anderen will die Spitzenbeamtin Sue Gray, die im Frühjahr 2022 mit der für Johnson schädlichen administrativen Untersuchung betraut war, den Posten der Stabschefin von Oppositionsführer Keir Starmer übernehmen – was bei den Tories einen Aufschrei der Empörung ausgelöst hat.

Der generelle Umgang der Regierung mit der Pandemie schließlich wird derzeit von einer unabhängigen Kommission untersucht, die Zugang zu allen relevanten E-Mails und Whatsapp-Nachrichten hat. Der «Daily Telegraph» will mit der Veröffentlichung der «Lockdown-Files» ganz offensichtlich auch dafür sorgen, dass bei der Aufarbeitung nicht nur die Unterlassungen, sondern auch die behördlichen Überreaktionen ausreichend Beachtung finden.