Putin bezeichnet die EU und ihre Mitglieder als „Kolonien“ der USA

Dass Russland sich gerade endgültig vom politischen Europa abwendet, ist offensichtlich. Nun hat auch Putin deutliche Worte gefunden und die EU und ihre Mitgliedsstaaten als „Kolonien“ der USA bezeichnet.

Von Thomas Röper auf Anti-Spiegel

Der russische Präsident war bisher – zumindest gegenüber den europäischen Staaten – ausgesprochen diplomatisch. Ich habe hier ungezählte Reden, Auftritte und öffentliche Diskussionen mit Putin übersetzt und mein Buch über Putin besteht mindestens zur Hälfte aus ausführlichen Zitaten Putins, weshalb auch Leser ohne Russischkenntnisse das leicht überprüfen können. Gegenüber den USA ist Putin nach seiner berühmten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 sehr viel deutlicher geworden, während er sich in seinen Äußerungen den Europäern gegenüber zurückgehalten hat.

Der Grund war, dass man in Russland sehr wohl wusste, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht souverän, sondern Vasallen der USA sind. In Russland hat man aber wohl bis zuletzt gehofft, dass sich die europäischen Regierungen, wenn es um Sein oder Nichtsein geht, auf die wirklichen Interessen ihrer Länder und Völker besinnen und sich von den USA lossagen, wenn es um das eigene Überleben geht.

Die enttäuschten Hoffnungen Russlands

Im letzten Jahr wurde immer absehbarer, dass das nicht passieren wird, dass die EU und die Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten eher mit fliegenden Fahne untergehen, als sich von den USA zu emanzipieren. Und so hat sich im letzten Jahr auch die russische Rhetorik gegenüber den europäischen Regierungen geändert. Schon im Oktober 2021 fragte das russische Außenministerium in Richtung Brüssel, „worüber kann man mit solchen Leuten reden?“ Diese Entwicklung nimmt nun immer mehr Fahrt auf, wie der russische Außenminister Lawrow erst vor wenigen Tagen in einer Pressekonferenz deutlich gemacht hat.

Nun hat auch der russische Präsident seine bisherige Zurückhaltung, zumindest ein wenig, aufgegeben. Am 9. Juni hat Putin sich den Fragen junger russischer Unternehmer und Wissenschaftler gestellt. Das war eine ausgesprochen interessante Diskussion, die ich aber leider nicht komplett übersetzen kann, weil sie fast zwei Stunden gedauert hat.

In seiner Einleitung hat Putin über die geopolitischen Rahmenbedingungen gesprochen, die derzeit herrschen. Diesen Teil habe ich übersetzt, denn darin wurde Putin gegenüber den Europäern so deutlich, wie vielleicht noch nie zuvor. Er sprach dabei darüber, warum die Souveränität eines Staates wichtig ist und erklärte auch, was Souveränität eigentlich bedeutet und woran man sie erkennt.

Und dabei wurde er gegenüber der EU und ihren Mitgliedsstaaten sehr deutlich, denn auch wenn er sagte, er werde keine Beispiele nennen, versteht jeder, was er gemeint hat, als er über „ein Land oder eine Gruppe von Ländern“ sprach, die keine eigenen souveränen Entscheidungen treffen können, und damit per Definition Kolonien sind. Wen Putin als den Kolonialherrn dieser „Gruppe von Ländern“ ansieht, muss man wohl auch nicht extra erklären.

Russlands führende Köpfe nehmen kein Blatt mehr vor den Mund

Es dürfte kein Zufall sein, dass Putin das in seiner Einleitung ausgerechnet an dem Tag gesagt hat, an dem auch ein Artikel seines Pressesprechers zu dem Thema veröffentlicht wurde, den ich ebenfalls übersetzt habe. Russland macht derzeit vollkommen unmissverständlich deutlich, dass es die EU und ihre Mitglieder abgeschrieben hat und sie als Gesprächs- oder gar Verhandlungspartner nicht mehr ernst nimmt, weil sie ohnehin keine eigenen Entscheidungen treffen können und getroffene Vereinbarungen auf Druck ihres Kolonialherrn aus Übersee brechen, siehe Nord Stream 2 und eine lange Liste anderer Themen.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, wie der russische Außenminister das erst drei Tage zuvor in seiner Pressekonferenz formuliert hat:

„Es ist nicht mehr möglich, sich mit Europa auf etwas zu einigen und sicher zu sein, dass Europa es umsetzen wird. Wenn dieser „dämonische“ Schlamassel vorbei ist und Europa zur Vernunft kommt, werden wir sehen, wie es unsere weiteren Beziehungen sehen wird. Wir werden uns nicht aufdrängen. Was sie uns anbieten werden, werden wir natürlich abwägen und prüfen. Wenn es unseren Interessen nicht zuwiderläuft, sind wir bereit, die Kontakte wieder aufzunehmen.“

Deutlicher kann ein Diplomat anderen Staaten den Mittelfinger nicht zeigen. Russland hat die EU und ihre Mitglieder abgeschrieben und wendet sich Asien zu.

Kommen wir nun zu den Aussagen Putins vom 9. Juni. Ich habe den Teil von Putins Einleitung übersetzt, in dem es um das Thema Souveränität ging und wenn man das aufmerksam liest, findet man in fast jedem Satz einen Seitenhieb auf die Politik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, die den selbstmörderischen Kurs der EU-Kommission eifrig unterstützen und mittragen.

Putin im O-Ton über staatliche Souveränität

Beginn der Übersetzung:

Wir leben in einer Epoche des Wandels, das ist für jeden offensichtlich, das versteht jeder. Es finden geopolitische, aber auch wissenschaftliche und technologische Veränderungen statt. Die Welt verändert sich, und zwar schnell. Um eine Führungsrolle beanspruchen zu können – ich spreche nicht einmal von einer globalen Führungsrolle, sondern von einer Führungsrolle in zumindest irgendetwas – muss ein Land, ein Volk, eine ethnische Gruppe ihre Souveränität gewährleisten. Denn es gibt nichts dazwischen, keinen Zustand dazwischen: Entweder ein Land ist souverän oder es ist eine Kolonie, egal wie man die Kolonie bezeichnet.

Ich werde jetzt keine Beispiele nennen, um niemanden zu verärgern, aber wenn ein Land oder eine Gruppe von Ländern, nicht in der Lage ist, souveräne Entscheidungen zu treffen, ist es bekanntlich bereits eine Kolonie. Und eine Kolonie hat keine historische Perspektive, keine Chance, in einem so harten geopolitischen Kampf zu überleben. So war es schon immer – ich will nur, dass das verstanden wird -, damit wir nicht auf das schauen, was um uns herum und mit uns passiert, und dann mit offenem Mund sagen: „Ach Du meine Güte!“ Das war schon immer so, verstehen Sie, und Russland war immer die Speerspitze der Ereignisse.

Es gab Epochen in der Geschichte unseres Landes, in denen wir einen Schritt zurücktreten mussten, aber nur, um unsere Kräfte zu sammeln und vorwärts zu gehen, um uns zu konzentrieren und vorwärts zu gehen.

Und Souveränität im modernen Sinne – im Prinzip war es schon immer so, aber heute ist das besonders offensichtlich – setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen.

Da ist die militärpolitische Souveränität, und hier ist es natürlich wichtig, souveräne Entscheidungen in der Innen- und Außenpolitik treffen zu können, um die Sicherheit zu gewährleisten.

Die zweite Komponente ist die wirtschaftliche Souveränität: sich so zu entwickeln, dass die grundlegenden Bereiche der Entwicklung, was kritische Technologien angeht und was die Lebensfähigkeit der Gesellschaft und des Staates sichert, von niemandem abhängig sind.

In der modernen Welt ist die technologische Souveränität und natürlich auch die soziale Souveränität äußerst wichtig. Was meine ich damit? Das ist die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich für die Lösung nationaler Probleme zu konsolidieren, es ist der Respekt für die eigene Geschichte, die eigene Kultur, die eigene Sprache, für die Menschen, die in einem gemeinsamen Gebiet leben. Diese Konsolidierung der Gesellschaft ist eine der wichtigsten und grundlegenden Voraussetzungen für die Entwicklung. Wenn es diese Konsolidierung nicht gibt, fällt alles auseinander.

Ich habe diese Komponenten der Souveränität genannt – man kann noch mehr nennen, das sind die grundlegenden Dinge – und es ist offensichtlich, dass sie alle miteinander zusammenhängen. Ich habe sie aufgelistet: erstens, zweitens, drittens, viertens. Man kann die Reihenfolge auch umkehren und mit dem letzten und anfangen dann mit einem beliebigen Punkt weitermachen. Warum? Weil es das eine nicht ohne das andere gibt. Wie erreicht man äußere Sicherheit ohne, sagen wir, technologische Fähigkeiten, technologische Souveränität? Das ist unmöglich.

Ohne die Fähigkeiten unserer Wissenschaft und Industrie hätten wir niemals Hyperschallwaffen bekommen. Niemals! Und wissen Sie, erst wenn man damit konfrontiert wird, versteht man das. Als wir die Hyperschallwaffen bekamen, habe ich um eine Liste der Entwickler gebeten, um ihnen Auszeichnungen zu verleihen – ich habe das schon öffentlich erzählt und erzähle es Ihnen jetzt nochmal – und man brachte mir eine dicke Mappe. Ich fing an, darin zu blättern, und darin standen keine Namen, sondern Unternehmen, Designbüros und Forschungsinstitute. Ehrlich gesagt, war sogar ich überrascht. Ich fragte: „Was hast du mir da gebracht?“ Er sagte, wenn ich auch nur einen rausstreichen würde, wären die Raketen nicht entwickelt worden. Tausende von Menschen haben daran gearbeitet, verstehen Sie? Tausende! Damals erkannte ich die Tiefe und das Potenzial unserer Verteidigungsindustrie.

Das gilt auch für die Wirtschaft insgesamt. Wenn die Wirtschaft hinkt, niest und hustet, dann war’s das. Welche Konsolidierung der Gesellschaft kann es dann geben? Und wenn es keine Konsolidierung gibt, dann gibt es überhaupt nichts.

Um das alles effektiv zu nutzen, um das alles zu haben und zu nutzen, müssen wir natürlich die grundlegenden Aufgaben lösen – die demografische Aufgabe, das heißt Gesundheit, Umwelt, Wissenschaft, Bildung und Erziehung, was sehr wichtig ist.

Wissen Sie, ich habe mich einmal mit dem Patriarchen unterhalten, wir haben über Bildung gesprochen, und er sagte zu mir: Bildung ist sehr wichtig, sie ist ein Schlüssel, aber ohne Erziehung klappt gar nichts, denn man kann einem Menschen etwas beibringen, aber wie er die Früchte seines Wissens nutzen wird – das ist die entscheidende Frage.

Das sind äußerst wichtige Dinge: Wissenschaft, Bildung, Erziehung, Gesundheitsfürsorge, denn ohne sie können die demografischen Probleme nicht gelöst werden und so weiter. Und die Kultur? Wenn wir uns nicht auf die Grundwerte der nationalen Kulturen der Völker Russlands stützen, wird es keine Konsolidierung der Gesellschaft geben. Wenn es keine Konsolidierung gibt, fällt überhaupt alles auseinander. Und die Tatsache, dass wir uns sozusagen verteidigen müssen, dafür kämpfen müssen – das ist offensichtlich.

Ende der Übersetzung

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