Pöbel-Eklat in Magdeburg: Kann man Karl Lauterbach noch ernst nehmen?

Der Gesundheitsminister soll bei einer Verdi-Demo ungeimpfte Pflegekräfte beschimpft und Fake News verbreitet haben. Ist er noch ernst zu nehmen?

Ein Kommentar von Ruth Schneeberger in der Berliner Zeitung

Karl Lauterbach am Mittwoch: Überdreht oder einfach nur erschöpft?

Es beginnt ganz harmlos. „Zunächst möchte ich all denjenigen danken, die heute hier sind und in den letzten zwei Jahren dafür gesorgt haben, dass Menschen, die krank geworden sind, überlebt haben“, sagte Karl Lauterbach (SPD) am Mittwoch auf einer Kundgebung des Pflegepersonals der Gewerkschaft Verdi in Magdeburg. „Dass wir durch diese Pandemie gekommen sind in einer Art und Weise, wie es vielen anderen Ländern nicht gelungen ist, dank ihrer Leistung ist das gelungen“, fährt der Gesundheitsminister fort. Doch dann kommt das Unfassbare: „Diejenigen, die hier gegen die Impfung protestieren“, zeigt er auf die Demonstranten zu seiner linken Seite, „haben dazu keinen Beitrag geleistet“.

Die Demo der Pflegekräfte sollte eigentlich auf die Missstände im Gesundheitswesen aufmerksam machen. Verdi nutzte dazu den Auftakt der Gesundheitskonferenz in Magdeburg, knapp 400 Protestierende zogen mit Transparenten und Sprechchören für mehr Personal durch die Stadt in Sachsen-Anhalt. In NRW bestreikt die Gewerkschaft schon seit acht Wochen die sechs Uniklinken des größten Bundeslandes – weil sich die Lage in den Krankenhäusern durch den wohlbekannten Fachkräftemangel drastisch zuspitzt. Die Pflegekräfte sind völlig zu Recht mehr als sauer, dass dagegen vonseiten der Politik so gut wie nichts getan wird und eine angemessene Patientenversorgung somit kaum noch möglich ist.

Und dann tritt der Gesundheitsminister aufs Podest und beleidigt die ungeimpften Pflegekräfte?

Zumindest sagt er: „Die hier gegen die Impfung protestieren, haben dazu keinen Beitrag geleistet und sollten eigentlich nicht hier sein. Sie haben kein Recht, hier zu sein“, zeigt Lauterbach auf die linke Demonstrantengruppe und dann auf die rechte: „Hier sind diejenigen, denen wir den Erfolg verdanken.“ Dann zeigt er wieder nach links: „Sie haben keinen Beitrag geleistet! Und ich finde, es ist eine Unverschämtheit, dass Sie noch die Stirn haben, hier eine berechtigte Demonstration derjenigen zu missbrauchen, die gearbeitet haben, die es jetzt auch noch tun, die belastet sind.“ Dann zeigt er noch mal nach links: „Ihre Arbeit hat keinen Beitrag geleistet.“

Hier die braven Pflegekräfte, dort die ungenierten Störenfriede?

Allein aufgrund des von n-tv verbreiteten Videos zu dem Eklat könnte man meinen, der Minister wende sich an völlig unterschiedliche Demonstrantengruppen. Hier die braven Pflegekräfte, die sich in der Pandemie noch weiter aufgeopfert haben als zuvor schon, dort die ungenierten Störenfriede, die mit der Demo nichts zu tun haben und einfach nur gegen die Impfung wettern wollen. Am Mittwoch hatten die aus Magdeburg Bericht erstattenden Medien auch noch nichts von dem Vorfall berichtet. Doch am Donnerstag gab es die ersten Berichte dazu, dass es sich bei den von Lauterbach Angesprochenen auch um Pflegekräfte gehandelt habe – nur eben ungeimpfte. Unter dem Tweet #DankeUngeimpftePflegehelden verbreiten sich schon seit Mittwoch in Social Media Solidaritätsbekundungen.

Sollte es also wirklich so sein, dass Karl Lauterbach in Magdeburg ungeimpfte Pflegekräfte auf diese Weise diffamiert hat, müsste man sich ernsthaft fragen: Geht’s ihm noch ganz gut?

Der n-tv-Reporter bemühte sich nach dem Beitrag einzuordnen, dass der Gesundheitsminister derzeit schwere Aufgaben zu bewältigen habe, nicht nur die Corona-Herbstwelle zu begleiten, sondern auch das aufzuarbeiten, was die Gesundheitsminister vor ihm schon alle verbockt haben, nämlich den Pflegenotstand nicht ausreichend einzudämmen, der seit Corona nur noch stärker geworden ist. Es habe unter anderem deshalb so viel Wut in der Luft gelegen und Lauterbach sei deshalb so stark ausgebuht worden, weil schon sein Vorgänger Jens Spahn den Beschäftigten viele Versprechungen machte, die er nicht eingehalten hat. Auch Lauterbach gab am Mittwoch ein festes Versprechen ab: dass noch vor der Sommerpause die Personalbemessungsgrenze angegangen werde. Dazu gab es von Verdi Dank und Applaus, aber auch lautstarke Zwischenrufe aus dem Publikum: „Lügner! Lügner!“

Die meisten ungeimpften Pflegekräfte arbeiten weiter in ihrem Job

Dieser Aspekt macht den Vorgang allerdings noch absurder. Denn wobei geht es bei der Personalbemessungsgrenze? Um mehr Personal. Das ist das Grundproblem in der Pflege: Es gibt schon seit der Privatisierung in den 1990er-Jahren zunehmend nicht mehr genügend Personal, das verbliebene brennt aus und muss zudem seit Corona für immer mehr Kollegen die Arbeit mit übernehmen, die der Branche enerviert den Rücken kehren oder dauerhaft krank geworden sind.

Und dann schafft Lauterbach auf dem Höhepunkt der Pandemie und des Pflegenotstands quasi ein Berufsverbot für ungeimpfte Pflegekräfte. Und reduziert somit die Verbliebenen noch weiter. Und dann beschimpft er auch noch die durch seinen Vorstoß aus ihrem Beruf oder ihrer Berufung gedrängten, eigentlich dringend benötigten Arbeitskräfte?

Das Ganze wird noch absurder, wenn man die Hintergründe kennt: Die Impfpflicht für Pflegekräfte wurde zwar im April beschlossen, bis heute jedoch arbeiten die meisten Ungeimpften weiter in ihren Jobs. Zum Teil weil nicht mal die Gesundheitsämter von dieser Regelung überzeugt sind, zum Teil weil viele Arbeitgeber davon ausgehen, dass das Gesetz 2023 eh wieder ausläuft, zum allergrößten Teil aber weil auf sie nicht verzichtet werden kann. Schon gar nicht bei dieser Personalknappheit.

Meinte er Impfgegner im Allgemeinen und deren „Arbeit“?

Es kann also gar keine Rede davon sein, dass ungeimpfte Pflegekräfte „keinen Beitrag“ leisten würden, nicht zum Erfolg der Pandemiebekämpfung beitragen würden, im Gegenteil: Die meisten von ihnen gehen ihrer Arbeit wie schon vor der Pandemie weiter nach, sie arbeiten weiterhin täglich an den Betten der Patienten, wie es auch schon zu Beginn der Pandemie ihre damals ebenfalls noch ungeimpften Kollegen mit ihnen zusammen getan haben – und immer noch tun. Viele Ungeimpfte müssen gar für Kollegen einspringen, die nach der Impfung für kurze oder auch längere Zeit ausfallen. Sie müssen geimpfte Kollegen vertreten, die aus anderen Gründen krank werden oder der Branche aus Frust über die Überlastung und über die Pflegepolitik den Rücken kehren.

Doch Karl Lauterbach stellt sich hin und sagt ungeniert: „Wir werden dafür sorgen, dass diejenigen zurückkommen werden, die die Pflege verlassen haben.“ Dabei hat er doch selbst dafür gesorgt, dass Pflegekräfte die Branche verlassen sollen – durch die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Das nennt man dann wohl Fake News. Denn Lauterbach selbst ist nicht daran beteiligt, dass die Ungeimpften trotzdem noch in der Pflege verbleiben, daran ist allein der Pflegenotstand schuld. Er hätte stattdessen offenbar gerne dafür gesorgt, dass die fünf bis zehn Prozent ungeimpften Pflegekräfte der Pflege auch noch dauerhaft den Rücken kehren.

Und sollte es entgegen der Berichte und Eindrücke so sein, dass Lauterbach nicht die ungeimpften Pflegekräfte gemeint hat, sondern schlicht Impfgegner im Allgemeinen, die sich auf die Verdi-Demo gedrängelt hätten, so hinterließe der Auftritt, begleitet von lauten Buhrufen und viel Geschrei aus dem Publikum, dennoch einen mehr als faden Beigeschmack: Denn wie wollte Lauterbach wissen, welche Leute da „keinen Beitrag“ und „keine Arbeit“ geleistet haben, wie sollte er dann wissen, etwa welchen Jobs die Demonstranten nachgehen und wer wie viel etwa auf andere Weise zur Pandemiebekämpfung beigetragen hat?

Er kann die Hintergründe der Demonstrierenden dann gar nicht kennen und ginge einfach davon aus, dass Impfgegner seine Feinde sind. Auch das wäre einem Gesundheitsminister kaum angemessen, wenn auch weniger skandalös und abstrus als das Vermutete.

Eine Anfrage beim zuständigen Ministerium läuft. Die BLZ wird weiter dazu berichten.

Hier gefunden: https://www.berliner-zeitung.de/open-mind/eklat-in-magdeburg-ist-lauterbach-noch-ernst-zu-nehmen-li.239685