Corona und kein Ende: Früher waren Deutschlands nationale Alleingänge gefürchtet, heute erwecken sie Mitleid

Die Bundesregierung will nicht akzeptieren, dass die Pandemie ihren Schrecken verloren hat.

Auszug aus «Der andere Blick» von Marc Felix Serrao, Chefredaktor der Neue Züricher Zeitung (NZZ) in Deutschland.

Europa: Es gibt kein Wort, für das sich die deutsche Regierung so sehr begeistern kann. Europa, so formulierte es der Direktor der Europäischen Akademie Berlin, sei der Koalition aus SPD, Grünen und FDP regelrecht «ins Genom gebacken». Das Bündnis träumt sogar von einem europäischen Bundesstaat.

In der Praxis freilich gibt es ein Wort, das die Berliner Koalitionäre noch mehr fesselt als Europa. Dieses Wort lässt sie Europa vergessen und einen nationalen Sonderweg nicht nur zähneknirschend, sondern mit grimmigem Stolz beschreiten: Corona.

Mögen andere europäische Regierungen die Gefahr des Virus längst für beherrschbar und die Pandemie deshalb für beendet erklärt haben: Die Deutschen machen ihr Ding. An diesem Donnerstag verabschiedete der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen ein Gesetzespaket, das die Corona-Pandemie nicht nur nicht für beendet erklärt, sondern den Bundesländern bis zum nächsten Frühjahr eine ganze Palette von Massnahmen zur Eindämmung ebenjener angeblich immer noch brandgefährlichen Pandemie zur Verfügung stellt.

Wie verantwortungslos ist Emmanuel Macron?

Das fängt bei der Möglichkeit an, eine Maskenpflicht für Schüler ab der fünften Klasse zu erlassen, und hört bei einem Mindestabstand von 1,5 Metern, den Bürger unter bestimmten Umständen auch im Freien zueinander einhalten müssen, nicht auf.

Was ist da los in Deutschland? Hat die Regierung in Berlin Erkenntnisse über das Virus, die andere politisch Verantwortliche des Kontinents nicht haben? Spielt jemand wie Emmanuel Macron mit dem Leben der Bürger seines Landes, wenn er auf Empfehlungen statt Verordnungen setzt? Eine zumindest indirekte Antwort gab es am Donnerstag von Karl Lauterbach, der offiziell das Amt des Gesundheitsministers innehat, faktisch seit Amtsantritt aber fast nur als Corona-Minister in Erscheinung tritt.

Als im Parlament die berechtigte Frage aufkam, weshalb die Regierung auf den letzten Metern zwar die Maskenpflicht in Flugzeugen gestrichen habe, an der Maskenpflicht in Zügen aber festhalte, sagte Lauterbach, dass eine «Harmonisierung» mit dem europäischen Ausland grundsätzlich sinnvoll sei – aber nicht «stetig nach unten, wenn immer mehr Menschen sterben».

Man könnte sich über die Chuzpe wundern, mit der ein deutscher Minister anderen Regierungen in Europa indirekt vorwirft, das Leben ihrer Bürger aufs Spiel zu setzen. Aber der Sozialdemokrat hat seit seinem Amtsantritt (und auch vorher) schon zu viele Fehleinschätzungen über die Pandemie verbreitet, als dass man ihn in dieser Hinsicht noch ernst nehmen könnte.

«Fast allen seriösen Experten»

Betrüblich war auch der Auftritt des Justizministers Marco Buschmann. Der liberale Politiker, eigentlich ein kluger Mensch, stand am Rednerpult und tat, was er konnte, um den deutschen Sonderweg kleinzureden. Er erinnerte daran, dass die «Fortschrittskoalition» schon im Frühjahr fast alle Corona-Schutzmassnahmen für beendet erklärt habe, trotz intensiver Kritik. Sodann zählte er auf, was es alles auch künftig nicht mehr gebe, etwa Lockdowns oder Betriebs- und Schulschliessungen. Als wäre ein Gesetzespaket schon deshalb vernünftig, weil es nicht mehr so drakonisch ist wie ein vorheriges.

Buschmann rechtfertigte die Weigerung der deutschen Regierung, die Pandemie für beendet zu erklären, mit der angeblichen Warnung von «fast allen seriösen Experten». Diese sagten, man müsse mit einer Verschärfung der Lage rechnen. Oder wie es im Gesetzestext heisst: «Das Auftreten von Varianten mit neuartigen Erreger- bzw. Immunfluchteigenschaften ist jederzeit möglich und nicht vorhersehbar.»

Es ist ein Satz zum Einrahmen: Weil ein Virus, das nicht mehr annähernd so gefährlich ist, wie es mal war, wieder gefährlich werden könnte, braucht Deutschland weiterhin Massnahmen, um die Freiheit der Bürger einzuschränken. Man kann nur froh sein, dass die Bundesregierung im Umgang mit der Pandemie in Europa isoliert ist. Früher waren Deutschlands nationale Alleingänge gefürchtet. Heute erwecken sie Mitleid.

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